Rede zur Generaldebatte des Doppelhaushaltes 2021/2022 am 08. Juni 2021 – Prof. Dr. Jürgen Straub, WiR – Wir in Reutlingen (es gilt das gesprochene Wort)
Haushaltsrede
Sehr verehrter Herr Oberbürgermeister Keck, verehrte Mitglieder der Verwaltung, verehrte Ratskollegen, liebe Reutlinger.
Vorbei ist die gute alte Zeit, in der Corona noch „nur“ ein mexikanisches Bier war – nicht das allerbeste, aber besser als eine Pandemie, die plötzlich so hart die Bundesrepublik und auch uns getroffen hat. Allein in Reutlingen sind 71 Menschen, im Landkreis RT 270 Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen.
Keiner von uns hat bisher je ein Jahr wie 2020 und jetzt 2021 erlebt, in dem wir immer wieder auf Einschränkungen reagieren mussten und gleichzeitig ausjustiert haben, was sinnvoll und machbar ist.
Dass wir alle fast ein Jahr lang zu Hause festsitzen würden, um uns und unsere Mitmenschen zu schützen, hätte Anfang 2020 kaum jemand erwartet. Die Corona-Pandemie hat die Welt lahmgelegt und eine bisher unbekannte Krisensituation geschaffen. Auch wir als Stadt Reutlingen sind davon nicht verschont geblieben.
Wie alle kommunalen Haushaltspläne, die derzeit landauf, landab verabschiedet werden, steht auch unser Plan auf tönernen Füßen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie lange die Pandemie mit all ihren tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Einschränkungen sowie Langzeitfolgen unser Leben noch im Griff haben wird, nicht nur das private und berufliche Leben jedes Einzelnen, sondern ebenso das gesamte kommunale Tun.
Verringerte Einnahmen reduzieren zwangsläufig die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte. Mut machen zwar die fortschreitenden Impfungen, aber nur, wenn es gelingt, das Impftempo noch weiter zu beschleunigen und wenn die Mutationen nicht überhandnehmen. Aber es wird noch dauern und viel Geduld erfordern, bis wir unser normales Leben zurückbekommen, bis wirklich auch größere Veranstaltungen wieder möglich werden.
Trotzdem werden zerstörte Existenzen, Schuldenberge, Risse in den Gesellschaften, nicht zuletzt Trauer und Ängste bleiben. Das müssen wir sensibel wahrnehmen und benennen, ohne dabei in Verschwörungstheorien, zu einfache Freund-Feind-Konstruktionen oder gar Schuldzuweisungen abzudriften.
Rufen wir uns in Erinnerung. Die Verwaltung ging beim letzten Doppelhaushalt noch davon aus, dass bis zum Jahr 2020 die Steuereinnahmen auf ein Gesamtvolumen von 193 Mio. € wachsen. Bis 2022 wurde gar von einem weiteren Anstieg auf dann 209 Mio. € ausgegangen.
Die Realität hat uns eingeholt und diese Prognosen wurden zur Makulatur!
2020 wurden die wirtschaftlichen Folgen für unseren städtischen Haushalt noch abgefedert durch massive Hilfen von Bund und Land, aber wie lange ist dies noch möglich? Dauerhaft werden diese Hilfen die aufreißenden kommunalen Haushaltslöcher nicht stopfen können. Tatsächlich beruht unser diesjähriger Haushaltsplanentwurf wie in keinem Jahr zuvor in wesentlichen Teilen auf unsicheren Annahmen, auf Prognosen, die vielleicht längst schon wieder überholt sind. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis sich die wirtschaftliche und finanzielle Situation wieder stabilisiert.
Dies kann man niemand zum Vorwurf machen, aber es ist halt so. Deshalb kann auch der heute zu verabschiedende Haushaltsplan insgesamt nur eine grobe Richtschnur sein, die während des Jahres durchaus noch nachjustiert werden muss. Natürlich sind wir nicht erfreut über die immense Höhe der geplanten Kreditaufnahme.
Die multiplen Herausforderungen jetzt zu meistern und sich innovativ und wandelbar zu entwickeln, erfordert nicht nur Mut, Kraft und Talent. Gleichzeitig müssen wir gerade jetzt auch in unserer Vorbildfunktion sichtbar sein und achtsam mit unseren Ressourcen umgehen.
Unser grosser Dank an dieser Stelle gilt daher auch zuerst und vor allem den vielen, trotz der Krise Steuer zahlenden Arbeitnehmern, Unternehmen, Handwerksbetrieben und Selbstständigen.
Seit Jahren warnt die WiR-Fraktion jedoch ausdrücklich davor, grundsätzliche Systemfehler in unserer gesamtstaatlichen und unser gesamtstädtischen Mittelverteilung zu ignorieren.
Natürlich hätten wir dem Vorschlag der Verwaltung folgen können die Gewerbe- und Grundsteuer zu erhöhen, doch die WiR-Fraktion hat diese Pläne der Verwaltung von Anfang an strikt abgelehnt. In diesen schwierigen Zeiten wäre dies unseres Erachtens eindeutig das falsche Signal hinsichtlich der dringend notwendigen Gewerbeansiedelung und des fehlenden bezahlbarem Wohnraums.
Durch eine Erhöhung der Grundsteuer von 400 auf 500 Hebesatzpunkte würden Wohnungsbauvorhaben einerseits weniger attraktiv werden und andererseits das Wohnen insgesamt verteuern. Die Bemühungen der städtischen Wohnbauflächenoffensive würden dadurch wieder ausgehebelt.
Genauso eine Erhöhung der Gewerbesteuer von 380 auf 410 Prozentpunkte würde zwar theoretisch ein Plus von 3 Millionen Euro Mehreinnahmen bedeuten. In diesen schwierigen Zeiten kann diese Mehreinnahme jedoch durchaus auch bezweifelt werden. Viele Unternehmen aus Industrie, Gewerbe, Handwerk, Handel, Gastronomie und Dienstleistungen sind von Corona gebeutelt und werden nicht Gewinne wie in den Vorjahren ausweisen können. Nicht ohne Grund haben die Finanzämter Steuerstundungen vereinfacht. Dazu kommt noch die fatale Aussenwirkung einer Steuererhöhung zu diesem Zeitpunkt. Und dies rückwirkend zum 01. Januar. Eine dringend notwendige Gewerbeansiedelung wäre damit noch schwieriger.
Im Übrigen, unsere Vergleichstädte wie Heilbronn, Pforzheim, Ludwigsburg, Esslingen, Ulm, ja diese haben höhere Gewerbesteuerhebesätze als Reutlingen. Aber diese Städte haben auch etwas was Reutlingen nicht hat … Schnellbahnanschluss, Autbahnanschluss und Heilbronn noch dazu sogar einen Hafen. Daher bin ich der Ansicht, dass der Reutlingen Gewerbesteuerhebesatz von 380 Prozentpunkte bezogen auf die gebotene Infrastruktur absolut angemessen ist!
Leider wurde die Antwort auf eine Anfrage der WiR-Fraktion vom 22. Okt 2019 zur Darstellung der Kennzahlen zum Gewerbesteueraufkommen viel zu lange Zeit (bis März 2021) unter Verschluss für die Öffentlichkeit gehalten. Diese zeigt wie signifikant unterdurchschnittlich Reutlingen bei den Gewerbesteuereinnahmen abschneidet und welche Anstrengungen notwendig sein werden dies umzukehren.
Diese signifikanten Defizite können jedoch nicht der jetzigen Verwaltungsspitze in die Schuhe geschoben werden. 16 Jahre Hauptaugenmerk auf Kunst und Kultur tragen dafür mehrheitlich die Verantwortung.
Jedoch haben auch Wünsche der Verwaltung zur schlechten Finanzausstattung mit beigetragen. Hier möchte ich als Beispiel nur den Erbbaurechtsvertrag für das Hotel im Bürgerpark erwähnen. Die GWG bezahlt für ein Grundstück im Storlach genau so viel, nämlich 400 Euro/m², wie als Basis des Erbbaurechtsvertrages der Inverstor des Hotels für das Sahnestückgrundstück Bürgerpark. Bei einer marktwertgerechten Betrachtung wären dies leicht 4-5 Millionen Euro mehr im Stadtsäckel!
RT hat den höchsten Schuldenstand in gesamten Regierungsbezirk und ist Schlusslicht in der Eigenfinanzierungsrate.
In RT werden Gehälter teils mit Kassenkrediten bezahlt, das ist eine völlig undenkbare Situation. Kredite dürfen ausschliesslich für Investitionen; jedoch niemals für Personalkosten verwendet werden.
Daher fordern wir, dass auch die Personalsituation in der Verwaltung auf einen strengen Prüfstand gestellt werden muss!
Nur zwei Beispiele dazu. Eine weitere Digitalisierung der Verwaltung … sprich Verwaltung 4.0, bedeutet auch in Verwaltungen weniger Personal.
Die zusätzlichen, für die letztendlich erfolglosen Auskreisungsbemühungen des letzten Stadtoberhauptes geschaffenen Stellen in den beiden vergangenen DHH sind sang und klanglos in den Personalbestand übergegangen.
Ob, in welchem Umfang und zu welchem Preis heute und zukünftig öffentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge noch angeboten werden können wird sich zeigen. Dazu müssen wir jetzt endlich in die Diskussion eintreten und vielleicht auch Entscheidungen treffen die für manchen unpopulär sein werden.
Oberstes Ziel ist und bleibt die dauernde Erfüllung der Pflichtaufgaben.
Wir, und das heisst hier auch die Verwaltung müssen uns für die nächsten Jahre endlich verabschieden von Prestigeprojekten wie zum Beispiel das Glashaus in der Oberamteistrasse. „Nice to Have“ ist out in den nächsten Jahren.
Meine Damen und Herren, führen Sie sich vor Augen, wir haben einen Sanierungsstau in unserer Infrastruktur von einer halben Milliarde Euro angesammelt!!!
Wir müssen davon ausgehen, dass durch den Neubau des LRA die Kreisumlage in den nächsten Jahren deutlich steigen wird.
Und meine Damen und Herren Ratskollegen und Verwaltung, wir dürfen nicht die Augen davor verschliessen, nicht einmal unseren Anteil an der von vielen herbeigesehnten Realisierung der Stadt- bzw. Regionalbahn könnten wir bei dieser Finanzlage bezahlen!
Der Ende letzten Jahres neu gegründete Ausschuss für Struktur und Strategie, ASS muss nach der Haushaltsverabschiedung zu einem Think Tank, einer Denkfabrik, einer Ideenschmiede werden und es muss endlich eine Strategie erarbeitet werden wie und wohin sich Reutlingen in den nächsten 20 Jahren entwickeln soll. So wie es die Wir-Fraktion und auch die FWV-Fraktion seit Jahren einfordert.
Wir brauchen einen „Nachhaltigkeitsplan Reutlingen“.
Dieser wird ein wesentliches Element bei der Gestaltung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Zukunft der Stadt werden. Wir brauchen eine feste to-do-Liste im jeweiligen Verantwortungsbereich.
Nachhaltiges Handeln wirkt sich unterschiedlich stark in den drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales aus. Natürlich müssen wir in Reutlingen die finanzielle Nachhaltigkeit ins Zentrum unserer Überlegungen stellen. Damit gemeint ist der sehr eingängige Gedanke, dass die Stadt als öffentliche Hand innerhalb einer Generation nicht mehr Geld ausgeben darf und soll als zur Verfügung steht. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Finanzierung des öffentlichen Gemeinwesens prinzipiell ohne Verschuldung gesichert sein muss.
Das von den Fraktionen der CDU, FWV, WiR, AfD und FDP getragene Antragspaket dessen Inhalt und seine Vorgeschichte die Kollegin Gabi Gaiser ja bereits ausführlich erläutert haben, ist in der Lage die durch die Verwaltung vorgeschlagene Erhöhung der Grund- und Gewerbesteuer in den Jahren 2021 und 2022 zu vermeiden. Dazu soll in der Hauptsache der Personalkostenansatz reduziert, die Wiederbesetzungssperre von 6 auf 9 Monate verlängert werden und eine zusätzliche Ausschüttung der GWG an die Stadt erfolgen.
Für ein lebenswertes Reutlingen sollen die Wasserspiele im Bürgerpark schnellstmöglich wieder in Betrieb genommen werden und auch am Blumenschmuck in der Stadt darf nicht gespart werden denn dies bedeutet Aufenthaltsqualität und Lebensqualität für die Reutlinger Bürger und die Besucher unserer Stadt!
Mit grossem Bedauern und Unverständnis mussten wir die Ablehnung unseres Antrages zur „Erweiterung des Reutlinger Modells bei der Schulsozialarbeit“ hinnehmen, denn es hier um das Wohl unserer Kinder.
Dem jetzt daraus vorgelegten Haushaltsplan 2021/2022 und dem Haushaltssicherungskonzept 2021-2025 werden wir, die WiR-Fraktion, zustimmen.
Dem von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern ausgesprochenen Dank an die Verwaltung und insbesondere dem Finanzdezernat und den an diesem Kompromiss beteiligten Fraktionen schliesst sich die WiR-Fraktion vollumfänglich an.
Schliessen möchte ich mit einem Zitat von Albert Einstein:
„Es ist eine neue Art von Denken notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ … und dies gilt im übertragenen Sinn auch für Reutlingen!
Für Ihre Aufmerksamkeit herzlichen Dank.